Donnerstag, 30. Juli 2015

[Rezension] Lauren Oliver: "Panic - Wer Angst hat, ist raus"

Titel: "Panic - Wer Angst hat, ist raus"
Englischer Originaltitel: "Panic"
Autor: Lauren Oliver
Erscheinungsjahr (in Deutschland): 2014
Format // Preis: Gebundene Ausgabe (17,99€) // E-Book (12,99€)
Seiten: 368



Eine verschlafene Kleinstadt. Eine Handvoll Schüler, die gerade ihren Schulabschluss gemacht haben. Und ein verbotenes Spiel, an dem man nur teilnehmen kann, wenn man bereit ist, alles zu riskieren - vielleicht sogar das eigene Leben ...
Jahr für Jahr findet in dem kleinen Örtchen Carp ein gefährliches Spiel statt: Panic. Es ist ein  unberechenbares Ereignis, das seine Teilnehmer mit schwierigen und gefährlichen Aufgaben bis an ihre Grenzen treibt. Doch der Gewinn ist hoch: 67.000 Dollar gehen an denjenigen, der es schafft, alle Aufgaben erfolgreich zu meistern. Geld, das auch die achtzehnjährige Heather gut gebrauchen könnte, die sich in letzter Sekunde entscheidet, bei Panic mitzumachen. Doch nicht allen Spielern geht es um Geld: Dodge zum Beispiel verfolgt seine ganz eigenen Pläne: Er sinnt auf Rache ...




Das Wasser war so kalt, dass es Heather den Atem raubte, als sie sich zwischen den Jugendlichen hindurchdrängte, die den Strand bevölkerten und im seichten Wasser standen, jubelnd Handtücher und selbst gebastelte Schilder schwenkten und die übrigen Springer anfeuerten.




"Panic" habe ich letzte Woche gelesen, als ich für ein paar Tage mit einer Grippe ans Bett gefesselt war. Ich wollte etwas Leichtes lesen, nichts allzu Anspruchsvolles, aber dennoch irgendetwas Ungewöhnliches, was man eben nicht jeden Tag zu lesen bekommt. So landete ich schließlich bei diesem Roman, der schon seit einiger Zeit in meinem SuB liegt.

Fangen wir mit den positiven Punkten an: Zunächst gefiel es mir gut, dass man von Anfang an mitten im Geschehen war. Es begann gleich am ersten Spieltag von Panic, wo sich alle freiwilligen Teilnehmer der ersten Hürde stellen mussten: Dem Klippensprung. So lernte ich Heather kennen, die neben Dodge eine der beiden Hauptpersonen des Buches darstellte. Kapitelweise wurde das Geschehen abwechselnd aus Heathers oder aus Dodges Sicht erzählt, wobei man sich der finalen Prüfung von Panic immer weiter annäherte. Diese Spannung war auch während des Lesens die ganze Zeit zu spüren und ich wollte natürlich wissen, wer am Ende bei Panic gewinnt und welche einzelnen Prüfungen die Spieler im Laufe der Geschichte noch zu erwarten hatten.

So weit, so gut. Ein interessanter Plot, ein paar ungewöhnliche Charaktere, von denen scheinbar jeder seine persönlichen Geheimnisse hatte, alles verwoben mit einem mysteriösen Spiel. Ich habe irgendwie einen Roman erwartet, der sich mit Ursula Poznanskis "Erebos" vergleichen lässt. Doch nachdem ich ungefähr die Hälfte gelesen hatte, wurde mir klar, dass ich mit dieser Erwartung ziemlich auf dem Holzweg gewesen war. Denn "Panic" ähnelt zwar durchaus der Idee von "Erebos", - nur in einer viel, viel schlechteren Umsetzung.

Es begann schon damit, dass alle Details rund um das Spiel von der Autorin einfach nur langweilig und farblos vorgestellt wurden. Ich habe den Roman zwar ziemlich schnell durchgelesen, aber das lag  vielmehr daran, dass ich auf den Moment wartete, wo die Handlung endlich richtig in Schwung kam. Darauf wartete ich jedoch leider vergeblich. Stattdessen war alles unglaublich vorhersehbar, es gab keine wirklichen Überraschungen und auch den "Spielen", an denen sich Heather und ihre Freunde beteiligten, fehlte es an Atmosphäre und Nervenkitzel. Obwohl einige der Mutproben durchaus das Potenzial hatten, spannungsgeladen präsentiert zu werden, begnügte sich die Autorin lediglich mit spärlichen Beschreibungen der Örtlichkeiten und belanglosen Dialogen zwischen den Jugendlichen.

Damit wäre ich schon bei meinem nächsten Kritikpunkt: Auch die Charaktergestaltung der Haupt- und Nebenprotagonisten wies deutliche Mängel auf. Obwohl sie grundlegend aus unterschiedlichen Motiven handelten, wirkten sie gar nicht echt, greifbar oder lebendig, sondern einfach nur "austauschbar". In diesem Zusammenhang wurden auch Klischees aufgegriffen, die die betreffenden Personen sehr unrealistisch wirken ließen (ich verweise an dieser Stelle auf Heather mit ihrer alkoholsüchtigen Mutter; Natalie, die den Modelltyp verkörpert und ständig Angst hat und an Bishop, dessen so scheinbar unergründliches Geheimnis schon allzu schnell offensichtlich war). Insgesamt hatte ich mehrmals das Gefühl, es eher mit pubertierenden Dreizehnjährigen und nicht mit volljährigen Schulabsolventen tun zu haben.

Die Grundidee von "Panic" hat mir zwar ganz gut gefallen, aber wie genau es dazu kam und warum bloß alle Jugendlichen in der Stadt unbedingt bei diesem Spiel mitmachen wollen (abgesehen von der Gewinnsumme) wurde von der Autorin ebenfalls nur mit spärlichen Erklärungen begründet, die das ganze Geschehen noch realitätsfremder wirken ließen. Ich war gerne bereit zu glauben, dass so ein Spiel wirklich stattfinden könnte, aber ganz sicher nicht unter den Umständen, die die Autorin mir schilderte. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, als ob sie von einem ganz anderen "Panic" schrieb - mit üblen Machenschaften, wo die Spieler nur Schachfiguren in einem größeren Ganzen sind - und dann dachte ich: "Wie bitte? Reden wir immer noch von demselben Spiel?"

Letztlich war es nur der relativ flüssige, Schreibstil der Autorin, der mich dazu veranlasste, den Roman trotz meiner negativen Eindrücke schnell zu beenden. Doch auch der Abschluss konnte mich schließlich nicht mehr überzeugen, meine Meinung zu diesem Roman noch einmal zu überdenken, . Denn das Ende vermittelte eine sehr fragwürdige Botschaft, ganz nach dem Muster: "Geld löst alle Probleme". Und das halte ich in einem Jugendroman für mehr als unangemessen.




Obwohl sich "Panic" relativ schnell und flüssig lesen lässt, konnte mich die Umsetzung der Geschichte nicht überzeugen. Der Roman weist insgesamt einfach zu viele Lücken auf, war stellenweise zu wenig durchdacht und auch die einzelnen Personen wirkten auf mich nicht lebendig und überzeugend. Schade, bei so einer interessanten Idee hätte man weitaus mehr herausholen können als eine lieblose Erzählung mit einer zweifelhaften Botschaft am Ende.
Ich gebe "Panic" deswegen zwei von fünf Sternen, aufgrund des Schreibstils und der netten Grundidee, die aber zu wenig ausgearbeitet war.

★ ★ ☆ ☆ ☆


Dienstag, 21. Juli 2015

[Rezension] David Duchovny: "Heilige Kuh"

Titel: "Heilige Kuh"
Englischer Originaltitel: "Holy Cow"
Autor: David Duchovny
Verlag: Heyne Verlag
Erscheinungsjahr (in Deutschland): 2015
Format // Preis: Gebundene Ausgabe (16,99€) // E-Book (13,99€)
Seiten: 224



Elsie ist eine junge Kuh und eine glückliche dazu! Ihr idyllisches Leben auf dem Bauernhof hat einen klar strukturierten Tagesablauf: Aufstehen, gemolken werden (hoffentlich vom jüngeren Sohn des Bauern, der nicht dauernd auf seinem Handy rumdaddelt), lauschige Spaziergänge auf der Weide, mit ihrer Busenfreundin Mallory plaudern und anschließend wieder schlafen gehen. Elsie ist zufrieden, sie kennt es nicht anders und weiß, dass ihr Leben auch zukünftig so verlaufen wird.
Doch Elsies heile Welt fällt mit einem Schlag zusammen, als sie mit der bitteren Realität konfrontiert wird. Bei einem heimlichen nächtlichen Ausflug muss sie durch das Fenster des Bauernhofs mit ansehen, was der "Schachtelgott" (so nennen die Menschen den Fernseher) über "industrielle Mastbetriebe" offenbart. Elsie ist über das grausame Töten ihrer Artgenossen erschüttert und fasst einen wagemutigen Entschluss: Bevor auch sie zu einem Schnitzel verarbeitet wird, muss sie in eine bessere und sichere Welt flüchten. Unterstützung erhält sie von einem zum Judentum konvertierten Schwein und einem aufgedrehten Truthahn, die ihr auf ihrer abenteuerlichen Reise durch die Welt Gesellschaft leisten wollen.




Die meisten Leute glauben, dass Kühe nicht denken können.
Hallo?




Ich muss zugeben, dass ich damals beim Stöbern in der Buchhandlung vermutlich an diesem Buch vorbeigegangen wäre, wenn mich nicht ein hieb- und stichfestes Argument dazu bewogen hätte, es mir einmal genauer anzuschauen. Und dieses Argument lautete: David Duchovny.
Ja, dieser Mann ist eben einer meiner absoluten Lieblingsschauspieler. Und selbst diejenigen unter euch, die ihn nicht in seiner Rolle als Fox Mulder in The X-Files angehimmelt haben und ihn vielleicht auch nie in der für ihn perfekt zugeschnittenen Rolle in Californication gesehen haben, werden mir bestimmt trotzdem zustimmen: Duchovny hat sich mit der Schauspielerei mittlerweile einen Namen gemacht. Umso überraschter war ich, ihn nun auf unerwartetem Terrain anzutreffen, doch tatsächlich: David Duchovny kann anscheinend nicht nur sehr gut schauspielern, sondern er er besitzt auch ein Talent zum Schreiben - und das beweist er mit jeder Seite seines Romans "Heilige Kuh".

Wie schon angedeutet, hat mich das Cover des Buches allerdings am Anfang nicht sonderlich angesprochen. Man sieht die abstrakte Zeichnung einer Kuh, aber von hübsch, süß oder lustig ist dieses arme Tierchen meilenweit entfernt. Das macht zwar Sinn, da auch die Geschichte selbst kein Kinderbuch mit Knautschbildern zum Anfassen sein soll, doch so richtig daran gewöhnen konnte ich mich nicht. Auch im Roman tauchen ähnliche Bilder von Elsie und ihren Reisebegleitern auf, die den skurrilen Charakter dieses Romans noch zusätzlich verstärken.

Im Gegensatz zu den eher gewöhnungsbedürftigen Bildern fährt die Geschichte selbst jedoch stärkere Geschütze auf. Ich verrate euch nur so viel: Die Skurillität ist nicht die einzige Zutat, die "Heilige Kuh" zu einem Roman der besonderen Art machen, denn Duchovny kombiniert diese mit einer ganzen Menge Sarkasmus und einer ordentlichen Prise schwarzen Humor. Auch die Wortgewandtheit dieser besonderen Kuh hat mich schon nach wenigen Sätzen überzeugt, was sich vermutlich nicht zuletzt auf den fantastischen Übersetzer Timur Vernes zurückführen lässt (dem Autor von dem herrlich bissigen Werk "Er ist wieder da"), so dass dieser Roman auch in der deutschen Ausgabe seinen ganzen Witz und Charme entfalten kann.

Ein Textbeispiel (S. 12):
"Also, persönlich halte ich das ja für ein bisschen krank, dass man die Milch von anderen Tieren trinkt. Ihr werdet jedenfalls nie sehen, dass ich zu irgendeiner Menschenfrau hingehe, die gerade gekalbt hat und sie frage: 'Ey, kann ich auch mal 'n Schluck?' Krank stimmt's? Geht nicht. Irgendwie fies. Aber deshalb mögt ihr uns."

Ich zähle eigentlich zu den eher stillen Lesern und wenn ich beim Lesen eines Buches mal über etwas Lustiges schmunzeln muss, ist das schon eine Seltenheit. Bei diesem Roman habe ich jedoch nicht nur hin und wieder gelächelt, sondern ich musste stellenweise sogar das Buch zur Seite legen und einfach nur lachen, weil Elsies Ausführungen derart von bissigen Kommentaren und trockenem Galgenhumor gespickt waren, dass diese junge Kuh genau meinen Geschmack getroffen hat.

Elsie ist schon 'ne Marke und die vielen Kommentare und Randbemerkungen, die sie im Laufe der Erzählung zum Besten gibt, lassen alle Klischees über langweilige, ständig nur wiederkauende Kühe auf einmal ganz realitätsfremd wirken.
Weniger fernab der Realität ist jedoch die traurige Tatsache, dass nicht nur Elsies Artgenossen, sondern fast alle Tiere auf ihrem Bauernhof unter grauenvollen Bedingungen getötet werden, um den Menschen, die Elsie eigentlich sehr gerne hat, als Nahrung zu dienen. Duchovny beschreibt sehr anschaulich, wie eine denkende und durchaus fühlende Kuh mit dieser Horrordarstellung konfrontiert wird und wie es nicht nur auf Tiere, sondern auch auf Menschen wirken würde. Denn Elsie ist in diesem Roman nicht ausschließlich eine Kuh - sie ist vielmehr jener Teil Menschen, der hinsichtlich dieser Tatsache oft abgestumpft ist und sich nicht länger damit auseinandersetzen will. Mit dieser traurigen Botschaft appelliert Duchovny, selbst überzeugter Vegetarier, die Welt aus Elsies Sicht zu sehen. Und das fällt nicht schwer, weil sich diese schlaue Kuh mit ihrer locker-flockigen Art und ihrem düsteren Humor beim Leser unglaublich punkten kann.

Diese beschriebene Kernbotschaft taucht jedoch im Roman explizit nur einmal auf, als Elsie vom Schicksal der anderen Kühe erfährt, doch ab diesen Zeitpunkt zieht sich die Botschaft sich durch den ganzen Roman, denn sie bestimmt fortan Elsies Handeln und bestärkt sie in ihrem Entschluss, nach Indien zu gehen, wo Kühe als heilige Tiere verehrt und nicht gegessen werden. Im Laufe der Geschichte fiel mir jedoch auf, dass auch mit Duchovny etwas geschah, was mir schon bei vielen Autoren aufgefallen ist (Neulingen ebenso wie erfahrenen Autoren): Er hat sein Pulver verschossen. Elsies Geschichte, anfangs nicht so explosiv und lustig wie ein Pulverfass, verknüpft mit Jerry - äh, ich meine Shalom, dem Schwein, das zum Judentum konvertiert ist - und dem Truthahn Tom plätschert kurz nach ihrer Flucht nur noch seicht vor sich hin und mir fehlten Elsies so schlagfertig gesetzte Äußerungen. Der Roman wird zwar mit einer guten, nachvollziehbaren Moral abgerundet, doch das Ende lässt Duchovny ein wenig offen. Zum Schluss hätte ich mir gewünscht, dass Duchovny auch selbst noch einmal kurz Stellung zu dieser Problematik nimmt, aber wahrscheinlich hat er es allein Elsie überlassen, seine klare Botschaft zu vermitteln.




Auch wenn "Heilige Kuh" meiner Meinung nach noch nicht ganz ausgereift ist, legt David Duchovny dennoch einen ungewöhnlichen Debütroman vor, den der Leser nicht so schnell vergisst. Man sympathisiert sofort mit der neunmalklugen Elsie, die mehr sein will als nur ein Nahrungsmittel und deswegen nicht nur nach einer neuen Heimat, sondern eigentlich auch nach dem Sinn ihres Daseins sucht. Eine schwierige Thematik, die Duchovny jedoch meisterhaft gelöst hat und somit beweist, dass er auch das Potential zu einem guten Schriftsteller hat.

Ich gebe diesem tollen Roman von der gewitzten Elsie deswegen vier von fünf Sternen.


★ ★ ★ ★ ☆



Freitag, 3. Juli 2015

[Rezension] Stephen King: "Es"

Titel: "Es"
Englischer Originaltitel: "It"
Autor: Stephen King
Verlag: Heyne Verlag
Erscheinungsjahr: 1986
Format // Preis: Taschenbuch (14,99€) // Kindle-Edition (11,99€)
Seiten: 1536



"Es" ist ein namenloses Grauen, das personifizierte Böse in seiner furchterregendsten Form, das die amerikanische Kleinstadt Derry seit Jahrhunderten heimsucht. Alle 28 Jahre erwacht es aus einem tiefen Schlaf und begibt sich von der düsteren Kanalisation an die Oberfläche, um unter den Einwohnern und Besuchern der Stadt zu morden und zu fressen.
Nur eine kleine Gruppe von Kindern scheint zu wissen, dass sich hinter der immer wechselnden Gestalt von Es ein wahrhaft grausames Monster verbirgt, dessen Spuren viel weiter zurückreichen als sie es sich vorstellen können. Gemeinsam beschließen sie, der Bestie gegenüberzutreten und dem Grauen ein Ende zu setzen ...




"Der Schrecken, der weitere achtundzwanzig Jahre kein Ende nehmen sollte - wenn er überhaupt je ein Ende nahm - begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspapier, das einen vom Regen überfluteten Rinnstein entlangtrieb."




(Zur besseren Übersicht fasse ich meine Meinung und meine Erlebnisse mit diesem Buch in diesem Abschnitt zusammen)

Vor ungefähr drei Jahren habe ich angefangen, Stephen King zu lesen. Immer wieder spukte mir der Gedanke im Kopf herum, mich dem unumstrittenen Meister des Horrors zu widmen, bis ich der Versuchung endlich nachgab und mir einige seiner bekanntesten Werke holte. Schon damals war mir klar, dass mich mein "Leseweg" auf den düsteren Pfaden von King unweigerlich irgendwann zu seinem wohl bekanntesten und gleichzeitig außergewöhnlichsten Meisterwerk führen würde. Keine Frage, Stephen King hat viele fantastische Romane geschrieben, einer besser als der andere, aber "Es" ist einfach ... mit keinem anderen Horrorroman zu vergleichen. Es ist der gruseligste, alptraumhafteste, spannendste, mystischste und unergründlichste Roman, den ich je gelesen habe. Wenn man im Bereich der Horrorliteratur mitreden will, sollte man "Es" einfach gelesen haben.

Doch "Es" hat auch einen gravierenden Anspruch: Der Roman will offensichtlich nicht von jedem gelesen werden, das ist die klare Botschaft des Buchumfangs. Stolze 1536 Seiten voller Grauen beinhaltet dieses Mammutwerk, das man entweder als Herausforderung oder Einladung verstehen kann. Für mich war es letzteres, wobei ich zugeben muss, dass ich nach ungefähr drei Vierteln des Buches ganz schön ins Schwitzen gekommen bin. Zu dem ohnehin fast schon monströsen Umfang kommt nämlich noch hinzu, dass "Es" alles andere als eine leichte Lektüre ist, die man abends gemütlich vor dem Einschlafen lesen kann. Stattdessen wird der Leser aufgefordert, sich komplett auf die Geschichte einzulassen, sich dem Horror und den größten Ängsten zusammen mit den sieben Hauptprotagonisten zu stellen und in die tiefsten Abgründe einzutauchen, die der Autor dem Leser offenbaren möchte. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass der Roman demzufolge nichts für schwache Nerven ist.

Einmal mit dem Lesen begonnen, wurde ich sofort hineingezogen in die düstere, für King so typische Atmosphäre, die die ganze Geschichte wie einen undurchdringlichen Nebel umgibt. Ich fand mich in der verschlafenen Kleinstadt Derry wieder, die im Abstand von ungefähr dreißig Jahren regelmäßig zum Schauplatz furchtbarer und grauenvoller Morde wird, für die niemand eine Erklärung finden kann. In diesem Moment kommen sieben befreundete Kinder ins Spiel, die gemeinsam Nachforschungen anstellen, um die mysteriösen Todesfälle an ihren Freunden und Klassenkameraden aufzuklären. Jeder von ihnen hat einen unverwechselbaren Charakter und es war sofort klar, dass nur diese Gruppe gegen Es eine realistische Chance hatte. Ich mochte die Kinder sehr (auch als sie in späteren Verlauf erwachsen werden), aber richtig in sie hineinversetzen konnte ich mich nicht. Ich vermute, dass dies von King bewusst so angelegt worden war, um deutlich zu machen, dass auch die Kinder von diesem “Fluch“, der auf der Stadt Derry lastet, nicht verschont werden. Denn einerseits sind sie zwar ganz normale Kinder, doch andererseits kommt ihnen auch eine schicksalhafte Rolle zu, die stark an den Kampf des Guten gegen das Böse erinnert. Aus diesem Grunde finden sich auch im gesamten Roman nur wenig Grauzonen: Entweder die auftretenden Personen sind durchweg gut oder vollkommen bösartig. Alle anderen Personen, die sich nicht in dieses Muster einordnen lassen, sind lediglich Statisten, um die Geschichte insgesamt abzurunden.

Rückblickend kann ich sagen, dass ich das Lesen von "Es" wie einen Rausch erlebt habe. Der Roman hat mich so gefesselt, dass ich mich dessen schauriger Atmosphäre kaum entziehen konnte. In fast jedem Kapitel wurde ich durch die ständig neuen und gruseligen Ereignisse regelrecht aufgeputscht, Atempausen gab es nicht, weil Es immer wieder auftauchte - entweder als Vorahnung oder in einer seiner vielen Gestalten (die bekannteste ist vermutlich der Clown Pennywise). Das hatte jedoch auch zur Folge, dass ich nach knapp 1200 Seiten erstmal bedient war, denn nachdem ich es so oft miterlebt hatte, hatte ich nach einer Weile ein Gespür dafür entwickelt, was als Nächstes passieren würde, sogar bei ganz banalen Dingen. Das sah dann ungefähr so aus: Hm, sie schauen sich gerade ein altes Foto an, das ihnen unheimlich ist. Bestimmt wird das Bild gleich lebendig ... Oh, tatsächlich!
Erst zum Ende hin nahm der Roman nochmal ordentlich Fahrt auf und wurde sogar richtig melancholisch, ganz anders, als ich erwartet hätte. Hier zeigte sich einmal mehr, dass King seinem Leser auch viel Stoff zum Nachdenken geben kann und ihn nicht einfach mit einem abschließenden Ende zurücklässt. Zwar ist es schön, wenn ich einen Roman nach dem Lesen sozusagen in einen mentalen "Erledigt-Stapel" legen kann, aber noch besser gefällt es mir, wenn mir ein Roman noch etwas mit auf den Weg gibt. Aus diesem Grunde kann ich auch die meisten Geschichten von King lesen, ohne mich zu fürchten: Ich weiß zwar, dass er mich in die dunkelsten und bösartigsten Abgründe hineinführt, aber am Ende begleitet er mich auch immer wieder unbeschadet heraus (um einmal bildlich zu sprechen - ich hoffe, ihr versteht, was ich damit sagen will).

Was mir an Stephen King ebenfalls gut gefällt, ist sein persönliches kleines Universum, in dem so viele Kleinigkeiten richtig gut aufeinander abgestimmt sind und die einzelnen Geschichten sogar manchmal ineinander übergreifen. So liegt die fiktive Stadt Derry zum Beispiel nicht weit vom ebenso fiktiven Castle Rock entfernt, einer inzwischen recht bekannten von King erdachten Stadt, die in fast jedem seiner Romane am Rande erwähnt wird (meistens arbeitet irgendjemand dort, hat Bekannte, die dort wohnen oder es ist der nächstgelegene Ort mit einer Tankstelle). Und der wirklich wunder-wunderschöne Film "Stand by me" (das ist keine Übertreibung - schaut ihn euch an, ihr werdet es nicht bereuen!), der auf einer Kurzgeschichte von Stephen King beruht, spielt sogar zum Teil in diesem ominösen Castle Rock. In den Hauptrollen sind unter anderem Wil Wheaton (der alte Erzfeind von Sheldon aus The Big Bang Theory) und River Phoenix, an den Laurel im Roman "Love Letters to the Dead" einen Brief schreibt.
Doch mein persönlicher Favorit ist "Der Anschlag", ebenfalls einer der wuchtigeren Romane von King (1072 Seiten), in dem der Hauptprotagonist Jake nach Derry reist, als Es gerade gewütet hat, dort einige der Kinder trifft und versucht, einen Mord zu verhindern.




"Es" ist schlichtweg ein monumentales Meisterwerk, das nicht ohne Grund einen Meilenstein im Bereich der Horrorliteratur markiert. Das ist Stephen King auf dem unbestrittenen Höhepunkt seiner literarischen Entwicklung. So viel Zeit es auch in Anspruch nehmen mag, diesen außergewöhnlichen Roman zu lesen - es lohnt sich!

Dafür gibt es von mir ganz klar fünf von fünf Sternen.

★ ★ ★ ★ ★