Montag, 16. März 2015

[Rezension] Max Frisch: "Stiller"

Titel: "Stiller"
Autor: Max Frisch
Verlag: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr: 1954
Format // Preis: Gebundene Ausgabe (24,90€) // Taschenbuch (10,00€) // Kindle-Version (9,99€)
Seiten: 448




Mr. White, ein amerikanischer Staatsbürger, wird bei seiner Einreise in die Schweiz von der Grenzpolizei aufgehalten, weil er mit dem verschwundenen Bildhauer Anatol Ludwig Stiller identisch ist. Die Polizei scheint taub für seinen Protest zu sein und bringt ihn in ein Schweizer Gefängnis, um den ungewöhnlichen Fall aufzuklären. Dort wehrt sich White in seinen Aufzeichnungen vehement gegen die ihm vorgeworfene Anklage, eine andere Person zu sein und beteuert immer wieder: „Ich bin nicht Stiller!“
Als jedoch der Bruder, die früheren Freunde und die Ehefrau des verschollenen Bildhauers benachrichtigt werden und ihn zweifellos als Stiller identifizieren, zieht sich die Schlinge immer enger um ihn. Er flüchtet sich in Erzählungen aus seiner Vergangenheit, die ein anderes Leben zeichnen als jenes, das Stiller früher geführt hatte und kämpft darum, selbst zu entscheiden, welche Person er tatsächlich sein möchte.




Ich bin nicht Stiller! - Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whiskey, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere.




Ich rezensiere gerne Bücher. Ich schreibe diesen Blog, weil es mir Spaß macht, mich eingehender mit meinen gelesenen Büchern zu beschäftigen. Deswegen ist es nicht nur für euch als Leser, sondern auch für mich als Verfasserin eine Art der Unterhaltung. Ich denke über das Gelesene nach und versuche, es für meine Strukturierung nach Inhalt, Meinung, Fazit, usw. zusammenzufassen um anderen auf diese Weise ein Buch anschaulich zu präsentieren.
Und nun sitze ich vor meinem Laptop, mit dem Ziel, eine ebenso praktische Rezension über den Roman „Stiller“ zu schreiben und bin kurz vorm Verzweifeln. Denn dieses Buch weigert sich einfach genauso vehement wie Mr. White, sich von mir beurteilen zu lassen.

Eines weiß ich auf jeden Fall: „Stiller“ ist eines der ungewöhnlichsten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. Während des Lesens war ich begeistert, genervt, gelangweilt, gefesselt, müde und fasziniert. Ich habe mit White gelitten, war über die Engstirnigkeit der Schweizer Polizei entrüstet, habe seine Kurzgeschichten verschlungen oder mit quälender Neugier auf die eigentliche Geschichte schnell hinter mich gebracht und schließlich an allem gezweifelt - nicht zuletzt an der Frage: Hat mir dieses Buch gefallen?

Doch nach alledem, was ich mit Stiller durchgemacht habe, kann ich nun sagen: Ja, und zwar sehr. Es ist schon nicht leicht, ein Buch zu finden, das mich von der ersten bis zur letzten Seite begeistern kann. Doch noch nie habe ich ein Buch gefunden, dass mich daneben auch so viele andere Gefühle erleben ließ. Und das nicht, weil der Autor es nicht geschafft hatte, eine Spannung aufzubauen, sondern weil er die ganze Zeit mit den Erwartungen des Lesers spielt. Am Anfang war ich wirklich geneigt zu glauben, dass der arme Mr. White einfach das Opfer der skrupellosen Schweizer Polizei geworden ist. Ich war sogar so naiv, seine abenteuerlichen Geschichten zu schlucken. Aber Mr. White heißt nicht ohne Grund Mr. Weiß - die Farbe, mit der sich alles machen lässt. Sie nimmt jede noch so absurde Geschichte auf und ermöglicht eine Abgrenzung von dem, was man eigentlich ist. Anatol „Stiller“ konnte das nicht - er wurde zu dem gemacht, wofür ihn die Gesellschaft hielt und blieb nicht einfach nur still, sondern wurde immer „stiller“ - bis er schließlich gänzlich schwieg und verschwand.

Und trotz alledem sympathisierte ich eine ganze Weile mit ihm. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass ein Großteil der Geschichte aus seiner Sicht wiedergegeben wird, nämlich mit „Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis“, bestehend aus mehreren Heften, die ihm sein Verteidiger mitgebracht hat. Man erfährt die Hintergründe seiner Verhaftung, hört seinen fortlaufenden Protest, nicht Stiller zu sein und liest daneben auch sehr skurrile Geschichten (Mein Liebling war jene Geschichte über Rip van Winkle, dessen Leben sich nach einem seltsamen Ereignis dramatisch änderte). Diese Geschichten sind Stillers Flucht vor der Realität, die er aus einer ihm fremden Perspektive zu beschreiben versucht.
Richtig interessant wurde es vor allem jedoch im zweiten Teil, in dem Stillers Staatsanwalt und Freund zu Wort kommt, der die Erzählung aus seiner Sicht fortsetzt und plötzlich ist der entfremdete Stiller wieder ganz nah und ich fühlte wieder mit ihm. 
Ähnlich wechselhaft verhielt es sich bei mir mit Stillers Frau Julika - selten habe ich eine Figur aus einem Buch erst so bedauert und dann so abgrundtief gehasst, dass ich beim Lesen ihrer Aussagen gedanklich oft aufstöhnen musste, weil mir die Gute zu dermaßen auf den Wecker ging. Ich war einfach nicht in der Lage, ihr ihre Fehler (falls sie überhaupt welche hatte) ebenso großzügig zu verzeihen wie Stillers Flucht und seine haltlosen Proteste. Sie blieb mir bis zum Schluss ein Rätsel.




Der Roman "Stiller" ist nicht nur ungewöhnlich, sondern auch reich an bemerkenswerten Erkenntnissen, die das eigene Selbstbild während des Lesens ziemlich ins Wanken bringen können. Diese werden von Stiller gezielt eingesetzt, um seine Entscheidungen zu rechtfertigen und um zu erklären, warum er sich weigert, ein Leben anzunehmen, das er nicht (mehr) führen möchte:

"es hängt alles davon ab, was wir unter Leben verstehen! Ein wirkliches Leben, ein Leben, das sich in etwas Lebendigem ablagert, nicht bloß in einem vergilbten Album, weiß Gott, es braucht nicht großartig zu sein, [...] Daß ein Leben ein wirkliches Leben gewesen ist, es ist schwer zu sagen, worauf es ankommt. Ich nenne es Wirklichkeit, doch was heißt das! Sie können auch sagen: daß einer mit sich selbst identisch wird. Andernfalls ist er nie gewesen!" (Seite 65f.)

Solche Sätze machen ein Buch, egal wie sperrig es auch sein mag, für mich lesenswert und "Stiller" war voll davon. Egal wie genervt ich von dem Verlauf der Handlung war, irgendwann habe ich mich darauf eingelassen und ließ mich von Stillers innerer Auseinandersetzung mit dem Ich und dem Nicht-Ich mitreißen.




Ich weiß, dass "Stiller" kein einfacher Roman ist und ich bin mir sicher, dass kaum jemand von euch nach dieser Rezension sofort in die nächste Buchhandlung rennen wird, um dieses Buch zu kaufen. Es ist einfach nicht dafür geschaffen, um ein klassisches "Lieblingsbuch" zu werden. Man kann die Geschichte lieben oder sie langweilig finden (das sind meine beiden Gegensätze beim Lesen eines Buches); Grauzonen gibt es nicht. Aber ich glaube, "Stiller" ist ein weit unterschätzter Roman. Jeder, der nicht bereit ist, sich auf die Geschichte einzulassen, wird das Buch vermutlich nach spätestens zwanzig Seiten genervt auf den Stapel jener Bücher legen, die man irgendwann mal lesen könnte, nur eben nicht jetzt. Man kann sich nicht einfach hinsetzen und berieseln lassen. So funktioniert das Lesen dieses Buches nicht. Es ist ein Experiment, bei manchen klappt es, bei manchen nicht.

Meiner Meinung nach gibt es kein Bewertungsraster, das diesem Roman gerecht werden würde. Es müssten vermutlich viele Sterne sein, alle unterschiedlich groß, die abwechselnd funkeln und verblassen. Denn genau so liest sich das Buch - ein ständiges Auf und Ab, aber kein ganzheitliches Fazit.
Ich kann nur sagen: Ich bin froh, das Buch gelesen und Stiller wirklich kennen gelernt zu haben.






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